Hilfen zur Informationssammlung, Informationsauswertung (Hypothesenbildung) und
Betreuungsplanung bei geistig behinderten Menschen

defghij


Informationssammlung

  • Beschreibung der aktuellen Situation
  • Behinderungsgeschichte
  • Lebenslauf
  • Familiengeschichte

Informationsauswertung (Hypothesenbildung) und Betreuungsplanung bei geistig behinderten Menschen

  • Grundlegendes Vorgehen bei der Hypothesenbildung
  • Spezielle Hypothesenbildung bei geistiger Behinderung

Beschreibung der aktuellen Situation

1. Beobachtungen zur Symptomatik

Liegt wirklich eine geistige Behinderung vor?

(Wir empfehlen einen kleinen Test: legen Sie dem Klienten eine Boulevardzeitung vor und überprüfen Sie, ob er den ersten Abschnitt hinter der großen Überschrift lesen und verstehen kann. Wenn ja, ist der Klient lernbehindert und nicht geistig behindert.)

Wie kann der Klient sich sprachlich äußern?

(Was kann er sprechen, was kann er verstehen, kann er Zusammenhänge darstellen?)

Von welcher Art sind die Gefühlsäußerungen?

(Am besten vergleichen Sie die Gefühlsäußerungen des Klienten mit denen von Kindern, die Sie kennen. Mit welchem Verhalten eines Kindes in welchem Alter lassen sich die Äußerungen vergleichen?)

Liegen zusätzlich zur geistigen Behinderung körperliche Einschränkungen vor?

Welche Anforderungen kann der Klient erfüllen und welche kann er (noch) nicht erfüllen?

(Hier sollten Beobachtungen aus dem Alltagsleben beschrieben werden, z.B. in welchem Grad kann er eigenständig essen, zur Toilette gehen, sich an- und ausziehen, eine Tagesstruktur einhalten, arbeiten, sich in der Umwelt orientieren, mit Geld umgehen, usw. Womit ist der Klient überfordert?)

2. Soziale Kontakt- und Bindungsfähigkeit

Familiäre Bindungen und Beziehungen

(Zu welchen Familienmitgliedern hat der Klient Kontakt, wer ist die Hauptbezugsperson, wie gestalten sich die Kontakte, wie schätzen Sie die Stabilität der familiären Kontakte ein)

Bindung an Personen (außer Familie)

(Wir empfehlen, jeweils für Betreuungspersonen und Freundschaften/Partnerschaften zu betrachten: Hat der Klient eine engere Anbindung an Personen, gibt es eine Hauptbezugsperson, wie sieht die Beziehung aus, wie geht die Bezugsperson mit dem Klienten um, usw.
Wie reagiert der Klient auf einen Wechsel von Bezugspersonen?)

Bindung an Sachen

(An welchen Dingen hängt der Klient, gibt es Wechsel oder Konstanz in der Anbindung an Dinge)

3. Verhaltensstörungen – Verhaltensauffälligkeiten

(Hier sollten nur solche Auffälligkeiten aufgeführt werden, die nicht notwendiger Bestandteil der Behinderung sind.)

Behinderungsgeschichte

Die geistige Behinderung eines Menschen kann eine organische Ursache, soziale Probleme in der Kindheit oder eine Kombination aus beidem zur Ursache haben. Mit der Dokumentation der Behinderungsgeschichte sollen die Ursachen und die Entwicklung der Behinderung näher beschrieben werden.

Wann wurde das Vorliegen einer Behinderung zum erstenmal festgestellt?
Was wurde als Ursache angesehen?

(Die meisten Behinderungen mit einer organischen Ursache gehen auf einen Geburtsschaden oder eine Schädigung vor der Geburt zurück, deshalb sollte in jedem Fall der Geburtsverlauf beschrieben sein. Andere organische Ursachen sind genetische Defekte (z.B. Down-Syndrom), Infektionen, ein Impfschäden, ein Unfall mit Gehirnschaden)

Wie hat sich das Kind bis zur Feststellung der Behinderung entwickelt?

(Dies ist insbesondere wichtig, wenn es sich um einen Schaden handelt, der nicht bei oder vor der Geburt entstanden ist.)

Hatte der Klient in der frühen Kindheit (bis zum 6. Lebensjahr) einen längeren Krankenhausaufenthalt?

(Wenn ja, traten nach dem Aufenthalt Entwicklungsverzögerungen auf?)

Falls kein Organschaden diagnostiziert ist
Wie war die familiäre Betreuungssituation in der frühen Kindheit?

(War die Familiensituation instabil, hatten die Eltern oder ein Elternteil psychische Probleme oder Auffälligkeiten, gab es einen Wechsel der Bezugspersonen, war das Jugendamt eingeschaltet)

Wann hat das Kind sprechen, laufen, Sauberkeit gelernt?

(evtl. wann sind vorhandene Fähigkeiten verloren gegangen?)

Wurden spezielle Fördermaßnahmen durchgeführt?

(welche Maßnahmen, wann und von wem)

Lebenslauf – Lebensgeschichte

Lebensgeschichte ist mehr als Behinderungsgeschichte. Die Lebensgeschichte soll die Lebensumstände des Klienten in ihrem zeitlichen Verlauf dokumentieren. Besonders wichtig erscheint uns festzuhalten, daß das Leben des Klienten nicht mit dem Eintritt in eine Institution beginnt, sondern daß er etwas in die Institution mitbringt.
Wir empfehlen besonders, den Lebenslauf des Klienten mit Fotos, bzw. mit einem Fotoalbum zu dokumentieren.

Das Leben in und mit der Herkunftsfamilie

(Hier sollte beschrieben werden, wann und unter welchen Bedingungen der Klient aufgewachsen ist. Wo wurde er geboren, wie hat die Familie gelebt, welche Veränderungen traten im Laufe der Zeit ein. Eine ausführliche Beschreibung der Familienmitglieder wird im Kapitel „Familiengeschichte“ vorgenommen.)

War der Klient in der Kindheit dauerhaft fremd untergebracht?

(Zu welchen Zeiten war das Kind in welchen Einrichtungen (Berichte anfordern!), hatte es dort eine feste Bezugsperson, wie war die Bezugsperson, welcher Kontakt bestand zu den Eltern)

Familiengeschichte

Über die Familie erhält eine Person ihre Identität; Familie ist in dieser Beziehung durch keine Institution zu ersetzen. Geistig behinderte Menschen sind oft nicht in der Lage, ihren familiären Hintergrund selbst zu behalten und die familiären Eigenarten und Besonderheiten auf sich zu
beziehen. Wenn die Familie nicht durch betreuende Personen beschrieben und dokumentiert wird, geht sie für den behinderten Menschen verloren. Damit besteht auch die Gefahr, daß seine historische Identität verloren geht.

Technische Hinweise

Um die familiären Ressourcen eines geistig behinderten Menschen zu dokumentieren, ist fast immer die direkte Zusammenarbeit mit den Angehörigen erforderlich. Diese Zusammenarbeit sollte in dem Bewußtsein angelegt sein, daß man Informationen bekommen möchte, die für die langfristige Betreuung des behinderten Menschen, für seine Entwicklung und für das Zusammenleben mit ihm unentbehrlich sind. Deshalb sollte man nicht versuchen, die Gesprächspartner in ihrem Verhalten untereinander oder gegenüber dem behinderten Familienmitglied zu erziehen oder zu verändern. Erst recht sollte man sie nicht kritisieren oder verurteilen. Im Mittelpunkt sollte immer die Frage stehen: „Was kann der behinderte Mensch aus seiner Familie mitbekommen haben?“ Häufig können sogar die Eltern nicht sofort eine Antwort auf diese Frage geben. Deshalb ist es sinnvoll, die Lebensweise, Fähigkeiten und Besonderheiten der einzelnen Familienmitglieder zu beschreiben.

Es ist sinnvoll, einen kleinen Plan für die Gespräche und Interviews mit den Angehörigen zu haben. Sie wollen wissen:

  • Welche Mitglieder hat die Kernfamilie (Vater, Mutter, Geschwister), wie heißen sie mit Vornamen und wann sind sie geboren (Geburtsjahr ist besser als Alter)?
  • Familienmitglieder in Mutters Ursprungsfamilie
  • Familienmitglieder in Vaters Ursprungsfamilie
  • Wo wohnen die Personen?
  • Welche Berufe haben sie, wovon leben sie?
  • Was sind die Besonderheiten der Männer und Frauen in den jeweiligen Ursprungsfamilien der Eltern?
  • Wie haben die beiden Eltern in ihren jeweiligen Ursprungsfamilien gelebt?

In der Regel ist es sehr ergiebig, mit den Angehörigen Fotoalben anzuschauen und falls kein eigenes Familienfotoalbum des Betreuten besteht, ein solches neu anzulegen.

Hinweis: Stellen Sie möglichst keine Beziehungsfragen!

(Die Antworten erhalten weniger verwertbare Informationen als man denkt und die Gefahr ist groß, daß Sie gar keine Informationen mehr erhalten weil die Interviewpartner einen Verlust der familiären Intimität fürchten.)

Schreiben Sie die wichtigen Informationen möglichst sofort auf, später kommen Sie sowieso nicht mehr dazu oder die Einzelheiten fallen Ihnen nicht mehr ein. Wenn Sie den Angehörigen erklären, daß Sie mithelfen wollen, für ihr behindertes Familienmitglied die Familie zu erhalten, haben diese viel Geduld mit Ihnen. Zur Übersicht über die Familienmitglieder und zur späteren Hilfe bei der Auswertung (Hypothesenbildung) sollten Sie ein Genogramm erstellen.

Die Familiengeschichte oder besser die Familiengeschichten des Klienten sind nie fertig geschrieben. Je länger die Betreuung besteht, um so mehr Familiengeschichten sollten den Betreuern bekannt sein.

Informationsauswertung (Hypothesenbildung) und Betreuungsplanung bei geistig behinderten Menschen

  • Grundlegendes Vorgehen bei der Hypothesenbildung
  • Spezielle Hypothesenbildung bei geistiger Behinderung

Die Informationsauswertung soll zu einer Hypothese über die Persönlichkeit des Klienten führen. Besonderer Wert wird auf die Beschreibung der Entwicklungsmöglichkeiten der Persönlichkeit gelegt.

In die Hypothese sollten möglichst alle Informationen über den Klienten eingebaut sein.
Das Schema für die Hypothesenbildung ergibt sich aus dem folgenden Bild:


Die Persönlichkeit des Kindes (des Klienten) entwickelt sich

  1. Aus der wechselseitigen Beeinflussung der väterlichen und mütterlichen Modelle (Vorbilder) im Kind (Klienten) und
  2. Aus der Wechselwirkung der so verinnerlichten Modelle mit den Umweltanforderungen (die im konkreten Verhalten sichtbar wird).

Die Hypothese über die Persönlichkeit des Klienten gibt eine Antwort auf die Frage:

Wie entsteht unter Verwendung der familiären Modelle das persönliche Verhalten des Klienten bei Anforderungen aus der Umwelt?

Anmerkung: Es ist das generelle Ziel der Arbeit, daß möglichst viele der in den Ursprungsfamilien enthaltenen Ressourcen dem Klienten zur Verfügung stehen und von ihm genutzt werden können.

Die Hypothese sollte zwei Elemente enthalten:

  1. Struktur der Persönlichkeit (darunter ist die Systematik der Wechselwirkungen von familiären Modellen zu verstehen) z.B.
    • Sind beide Eltern bekannt?
    • Stehen beide gleichermaßen und gleichwertig als Modelle zur Verfügung?
    • Ist eine Elternposition evtl. doppelt besetzt (Stiefeltern, Adoptiveltern, usw.)?
    • Welche Struktur hat die Ursprungsfamilie jedes Elternteils (Eltern als Kind ihrer Familie?
    • Gibt es eine Systematik der „Aufteilung von Doppelungen“ (wird an anderer Stelle erklärt)?
    • Lassen sich die Hintergründe für Störungen oder Symptome aus der Struktur des Familiensystems ableiten? (siehe dazu die Systematik von Strukturen und Störungen)
  2. Inhalte der Persönlichkeit (Merkmale, Eigenarten und Besonderheiten, die im Verhalten, in der Emotionalität und in der sozialen Stellung sichtbar werden), z.B.
    • Aussehen
    • Arbeit
    • Sozialer Status
    • Wünsche und Bedürfnisse
    • Partnerwahl, usw.

Die Aufspaltung der Hypothesen in zwei Elemente hat in der Hauptsache zum Zweck, Störungen und Symptome zu analysieren, um eine Entscheidung darüber treffen zu können, ob man bei den durchzuführenden Maßnahmen „synthetisch“ arbeiten kann (also eindeutige Ziele setzen kann, eindeutige Beziehungen entwickeln kann, die Ressourcen der Ursprungsfamilie zusammenführen kann, usw.), oder ob man mit einem „2-Welten-Modell“ arbeiten muß (also das Hin- und Herspringen der Persönlichkeit zwischen zwei Lebensarten).

Anmerkung: Dies gilt nur für die Zusammenarbeit mit erwachsenen und nicht geistig behinderten Personen. Die direkte Arbeit mit Kindern und geistig behinderten Menschen muß immer „synthetisch“ sein. Für die Zusammenarbeit mit deren Angehörigen kann jedoch ein „2-Welten-Modell“ erforderlich sein.


Spezielle Hypothesenbildung bei geistiger Behinderung

  • Die vier Schritte der speziellen bei Hypothesenbildung geistiger Behinderung
  • Hypothesen aus Störungssymptomen bilden

Die vier Schritte der speziellen bei Hypothesenbildung geistiger Behinderung

Im Unterschied zum nicht behinderten erwachsenen Menschen kann ein geistig behinderter Mensch seine persönlichen Ressourcen nicht oder nur zum Teil eigenständig ohne unmittelbare Unterstützung und Hilfe anderer Personen in das gesellschaftliche Leben einbringen.

Die spezielle Hypothesenbildung sollte deshalb nach dem folgenden Schema ablaufen

  1. Schritt
    Welchen Entwicklungsstand (im Sinne von Eigenständigkeit) hat die Persönlichkeit heute?
    (Zu diesem Zweck ist es sinnvoll, sich eine Vorstellung über das „Entwicklungsalter“ des Klienten zu bilden, indem man sich fragt, in welchem Alter ein Kind sich ähnlich verhalten würde.)
  2. Schritt
    Welchen Entwicklungsstand halten wir aus heutiger Sicht für erreichbar?
    (Wo liegt die persönliche Grenze des Klienten, die aufgrund de Behinderung nicht überschritten werden kann?)
  3. Schritt
    Wie haben sich die wichtigsten Betreuungspersonen mit der Persönlichkeit des Klienten arrangiert?
    (Besteht ein adäquates Wechselverhältnis zwischen der Persönlichkeit und dem Verhalten der Hauptbetreuungspersonen und dem Klienten mit seinem Entwicklungsstand?)
  4. Schritt (wenn die vermuteten persönlichen Ressourcen nicht ausgeschöpft sind)
    Welche Faktoren haben bisher Entwicklungen blockiert?
    (d.h. in der Regel, wo ist die Betreuung nicht optimal gelaufen? Siehe dazu die Anmerkungen.)

Anmerkung 1 (Notwendigkeit der Anbindung an eine Bezugsperson):

Geistig behinderte Menschen haben nicht die Möglichkeiten, komplexe Strukturen zu durchschauen und ihr Leben danach zu organisieren. Sie brauchen statt dessen eine einfache Struktur, an der sie sich orientieren können. Diese muß alle Bereiche des persönlichen und sozialen Lebens umfassen. Wird diese einfache Struktur nicht zur Verfügung gestellt, reagieren die Personen mit Angst und Überforderung und verlieren unter Umständen die Fähigkeiten, die sie bisher hatten.
Da die Welt und auch der behinderte Mensch sich ständig verändern, muß auch der Strukturrahmen ständig angepaßt und weiterentwickelt werden. Es genügt also nicht, einmal eine Struktur zu finden und diese für alle Zeit beizubehalten.
Der wesentlichste Bestandteil der einfachen Struktur sind die Bezugspersonen. Die Hauptbezugspersonen (möglichst wenige, am besten nur eine oder zwei) bilden die „Brücke“ zu komplizierten Umwelt. Sie sollten möglichst über einen langen Zeitraum zur Verfügung stehen und eine seinem Entwicklungsalter angemessene Kommunikationsform mit dem Klienten entwickeln können (was in der Regel heißt, daß sie eher „aus dem Bauch“, also gefühlsbetont als „kopfgesteuert“, also verstandesbetont kommunizieren sollten).
Häufig bleiben die Eltern des behinderten Menschen diese Hauptbezugspersonen. Wenn die Eltern nicht ihrerseits persönlich gestört sind, sollten sie in dieser Rolle unterstützt werden.
Es kann nicht das Ziel der Arbeit mit geistig behinderten Menschen sein, diese von der Anbindung an eine Bezugsperson unabhängig zu machen.

Anmerkung 2 (wenn die Eltern nicht (mehr) die Hauptbezugspersonen sein können):

Für die Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen sind in unserer Kultur die Eltern als Identifikationspersonen nicht ersetzbar. Aus unterschiedlichen Gründen kann es aber sein, daß die unmittelbare Beziehung zwischen Eltern und Kind gestört ist, so daß das Kind in seiner persönlichen Entwicklung Schaden nimmt.

  • Früher oder später sind viele Eltern – und insbesondere die Mütter – geistig behinderter Kinder oder Erwachsener mit der Betreuung überfordert. Sie entwickeln dann selbst Störungen, was sich meist unmittelbar in Störungen bei ihrem Kind umsetzt. Die Übernahme der Betreuung durch eine Institution sollte die Eltern entlasten und persönlich unterstützen und nicht den Eindruck erwecken, daß die Eltern ihre Rolle nicht ausgefüllt haben.
  • Einige Eltern haben vornherein nicht die erforderlich Stabilität oder Reife, um sich um Kinder und insbesondere um ein behindertes Kind zu kümmern. Das kann der Fall sein, wenn sie selbst behindert oder sozial entwurzelt sind. Die Kindern verwahrlosen, und manche Kinder entwickeln unter solchen Verwahrlosungsbedingungen eine geistige Behinderung. Meistens sind die Eltern in diesen Fällen selbst Betreuungsfälle, so daß man die Hilfe und Unterstützung für sie ebenso planen muß, wie für die behinderten Klienten selbst.
  • In einigen Fällen können Kinder sich sogar nur dann entwickeln, wenn der Kontakt zu den Eltern reduziert oder ganz unterbunden ist und wenn eine andere Person Hauptbezugsperson wird, d.h. Kinder können eine Beziehung zu den Eltern als Identifikationspersonen nur dann behalten, wenn sie nur wenigen oder keinen direkten Kontakt zu ihnen haben. Dies ist dann der Fall, wenn einer der Eltern psychisch krank oder gestört ist. Zu diesen Störungen zählen Psychosen, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Zwangsneurosen, Depressionen. (Für die in fast jedem Fall notwendige Zusammenarbeit mit den Eltern sollte die Betreuungsperson speziell qualifiziert sein)

Hypothesen aus Störungssymptomen bilden

Eine geistige Behinderung ist in der Regel keine Störung oder Krankheit. Sie ist vielmehr ein Persönlichkeitsmerkmal, das wie andere Merkmale auch elementarer Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit sein kann. Allerdings kann ein geistig behinderter Mensch wie andere Menschen auch psychische Störungen haben.

Wir unterscheiden bei geistig behinderten Menschen Entwicklungsdefizite und Persönlichkeitsstörungen.

Entwicklungsdefizite liegen dann vor, wenn die vorhandenen persönlichen Potentiale (Fähigkeiten) wegen unzureichender Förderung nicht ausgenutzt sind. Abhilfe können hier geeignete pädagogische oder Trainingsmaßnahmen schaffen.

Persönlichkeitsstörungen entstehen daraus, daß es den Bezugspersonen nicht gelungen ist, eine eindeutige intensive und dauerhafte Beziehung zum dem behinderten Menschen aufzubauen oder wenn keine eindeutige Bezugsperson zur Verfügung stand (Hospitalismus). Infolge dessen ist der behinderte Mensch dauerhaft irritiert und überfordert. Abhilfe kann hier nur die langfristige Anbindung an eine geeignete Bezugsperson schaffen.

Beide Formen der Störungen können in jedem Lebensalter des geistig behinderten Menschen entstehen.

Typische Störungsbilder bei geistig behinderten Menschen

  1. Stereotype Bewegungen
    • Kennzeichen: rhythmisches Schaukeln mit Kopf oder Oberkörper, Hände reiben oder Gliedmaßen verdrehen, stereotype Laute abgeben oder Geräusche mit Gegenständen produzieren, anhaltendes intensives Reiben der Genitalien, usw. In extremen Fällen wird rhythmisch mit dem Kopf oder mit Gliedmaßen auf den Boden oder gegen die Wand geschlagen bis hin zu Verletzungen.
    • Ursachen: Defizit an Kommunikation mit anderen Personen. Die Gründe für dieses Defizit können vielfältig sein. Hier einige der Gründe
      • Häufiger Wechsel der Bezugsperson
      • Zu viele Bezugspersonen
      • Die Bezugsperson ist „kalt“, sie lehnt den Klienten innerlich ab
      • Zuviel Kommunikation über Sprache
      • Überforderung durch zu komplexe Anforderungen
      • Fehlende soziale und Zeitstrukturen
    • Maßnahmen: Die Hauptmaßnahme ist die Anbindung an eine geeignete Bezugsperson. Diese Bezugsperson sollte in der Lage sein, eine emotional warme Beziehung zu dem Klienten aufzubauen. Wichtiger Bestandteil der Kommunikation sollte Körperkontakt sein. (Dies gilt nicht, wenn die Diagnose „Autismus“ besteht, dies ist aber sehr selten und hat auch nichts mit „autistischen Zügen“ zu tun.) Je nach den herausgefundenen Gründen für die Störungen ist eine Reihe weiterer Maßnahmen notwendig, wobei vor allem auf eine Vereinfachung der Umgebungsstrukturen geachtet werden sollte.
    • Prognose – Entwicklung: Ein halbes Jahr nachdem die Bezugsperson mit ihrer Betreuung begonnen hat sollte eine wesentliche Verbesserung eingetreten sein. Nach einem Jahr sollten die Stereotypien nur noch dann auftauchen, wenn außergewöhnliche Ereignisse eintreten.
  2. Aggressionen
    • Aggressionen treten bei geistig behinderten Menschen in sehr vielfältigen Formen auf. Sie entstehen in der Regel aus Unkenntnis der sozialen Umgebung über den Umgang mit einer geistigen Behinderung oder aus Fehlern in der Organisation der Betreuung. Wir unterscheiden drei Formengruppen.
      1. Aggression aus Überforderung
        • Kennzeichen: verbal und/oder körperlich aggressives Verhalten gegen Personen, Sachen oder sich selbst. Tritt dauerhaft oder phasenweise auf.
        • Ursachen: die Person hat für die aktuellen Anforderungen kein eigenes Verhaltenskonzept zur Verfügung. Sie reagiert mit Angst und in der Folge mit Aggression. Durch Dauerüberforderung kann aggressives Verhalten regelrecht antrainiert werden. Die Person reagiert dann in Erwartung einer Anforderung schon „vorsorglich“ aggressiv.
        • Maßnahmen: (siehe unter Punkt „Stereotype“) Bei der Auswahl der Bezugspersonen muß darauf geachtet werden, daß diese selbst keine Angst vor den Aggressionen des Klienten haben. Sie sollten handlungsorientiert sein („nicht reden sondern handeln“), und es sollte ihnen leicht fallen, anderen Personen einen strukturierten Rahmen zur Verfügung zu stellen. Je weniger der Klient sich sprachlich ausdrücken kann, um so mehr Kommunikation über Körperkontakt ist erforderlich.
        • Prognose – Entwicklung: Die Prognose hängt stark davon ab, unter welchen Bedingungen der Klient aufgewachsen ist. Wenn er schon als Kind hospitalisiert worden ist und dadurch keine oder nur wenig Fähigkeit hat eine Bindung zu Personen zu entwickeln,
          kann es mehr als ein Jahr dauern, bis wesentliche Fortschritte erzielt werden. In diesem Fall benötigen die Bezugsbetreuer viel Unterstützung. In den meisten Fällen sollten Fortschritte innerhalb eines viertel Jahres zu erzielen sein.
      2. Aggression aus Identifikation mit Vorbildern
        • Kennzeichen: Aggressives Verhalten wird gezielt und ohne Druck, oft auch ohne Grund eingesetzt. Bisweilen kann man auch Lust auf Aggression beobachten. Häufig werden als Ziel der Aggression schwächere Personen ausgesucht. Aggression wird manchmal ritualisiert. Gruppenbildung verstärkt die Aggression. Die geistige Behinderung bei Personen, die dieses Verhalten zeigen ist meistens eher leicht, in der Regel können sie sprechen.
        • Ursachen: die Ursachen können unterschiedlich sein

          • Aggressive Vorbilder in der Ursprungsfamilie – die Person hat ein Bild von den Eltern bzw. von einem Elternteil, das hauptsächlich von Aggression und Gewalt geprägt ist.
          • Die Person ist „entwurzelt“, d.h. Eltern stehen als Identifikationsfiguren wenig oder gar nicht zur Verfügung. Als Ersatz hängt sich die Person an aggressive Personen an, denen sie begegnet (Identifikation mit dem Aggressor) und übernimmt deren Verhaltenskonzepte. Diese Entwicklung wird durch das Anschauen von Filmen mit Gewalt und Aggression unterstützt und verstärkt.
        • Maßnahmen: Anbindung an eine nicht-aggressive Bezugsperson (siehe oben), die keine Angst vor Aggression hat. Wenn mehrere aggressive Personen in einer Gruppe sind, sollten diese getrennt werden. Ritualisierung der Aggression sollte unterbunden werden. Das Anschauen aggressiver Filme sollte verhindert werden. Wenn Kontakt zu den Eltern besteht, sollte der Betreuer seinen Kontakt zu den Elternkontakt mit dem Ziel intensivieren, die Identifikationsbezüge für den behinderten Menschen zu erweitern (die Eltern müssen über „verwertbare“ Merkmale bekannt sein).
        • Prognose – Entwicklung: Fast alles aggressive Verhalten dieser Art läßt sich durch geeignete Maßnahmen kurzfristig reduzieren. Die Stabilisierung des Selbstbewußtseins des Klienten auf dem Hintergrund eines erweiterten Identifikationsbezugs ist eine langfristige Aufgabe.
      3. Aggression aus „Aufpumpen“ von Gefühlen bei stark eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit
        • Kennzeichen: Plötzlich und unerwartet auftretendes aggressives Verhalten (Schlagen) gegen Personen. Die Klienten sind meist schwerstbehindert und können nicht sprechen.
        • Ursachen: Der Hintergrund für diese Art der Aggression ist die fehlende Kommunikationsfähigkeit. Damit können innere und äußere Wahrnehmungen nicht mit anderen Personen ausgetauscht werden. Negative und positive Wahrnehmungen führen zu einer Art „Gefühlsstau“ verbunden mit einem „Aufpumpeffekt“. Es entsteht ein „Überdruck“, der sich in plötzlichen aggressiven Handlungen gegen Personen entlädt. In dieser Situation findet dann der Austausch mit der Umwelt statt. Meistens ist dieses Verhalten ein „Hospitalisierungssymptom“, das darauf zurückzuführen ist, daß dem behinderten Menschen in der Vergangenheit keine sensible Bezugsperson zur Verfügung stand.
        • Maßnahmen: Die erforderlichen Maßnahmen kann man im wesentlichen unter dem Begriff „Körperarbeit“ zusammenfassen. Es gibt hierfür verschiedene Ansätze, z.B. basale Stimulation, Psychomotorik, Motopädie. Die Arbeit wird für die Betreuungsperson wesentlich einfacher, wenn sie in einer der entsprechenden Techniken qualifiziert sind. Die hauptsächliche Anforderung an die Betreuungsperson ist Geduld und Sensibilität und die Fähigkeit körperliche Nähe zu dem behinderten Menschen zu ertragen und zu entwickeln.
        • Prognose – Entwicklung: (siehe der Punkt Aggression aus Überforderung) Wenn sich nach einem halben Jahr das Verhalten nicht wesentlich gebessert hat, ist u.U. die Bezugsperson nicht richtig ausgewählt oder der allgemeine Betreuungsrahmen ist zu kompliziert.
  3. Einkoten
    • Kennzeichen: Der Klient hat seinen Stuhlgang nicht oder nur begrenzt unter Kontroll. In einigen Fällen treten Kotschmierereien auf. Das Verhalten tritt auf, obwohl es nicht durch die Schwere der Behinderung verursacht wird (bei Schwerst-Mehrfach-Behinderungen ist Einkoten häufig auf den Körperschaden zurück zu führen).
    • Ursachen: Das Einkoten in der beschriebenen Form ist das „Leitsymptom“ für eine Persönlichkeitsstörung, die aus einer destruktiven Beziehung einer Hauptbezugsperson zum Klienten in dessen Kindheit entsteht. Aus Sicht der Bezugsperson sollte das Kind besser nicht leben, oder es besteht eine sog. „Doppelbindung“, innerhalb der das Kind existieren soll oder doch nicht existieren soll. Das Kind reagiert darauf, indem es sich selbst auflöst, und als solche Selbstauflösungserscheinung kann man auch das Einkoten interpretieren. Häufig tritt die Erscheinung auf, wenn ein Elternteil eine psychische Krankheit hat oder drogenabhängig ist. Auch frühe Fremdunterbringung und das Fehlen einer konstanten Bezugsperson (Hospitalismus) kann die Ursache sein.
    • Maßnahmen: es sind die gleichen Maßnahmen wie unter dem Punkt „Stereotype“ erforderlich. Wenn weiterhin eine Beziehung zu den Eltern besteht, ist eine intensive Elternarbeit erforderlich (erfordert eine besondere Qualifikation). Evtl. sollte der Kontakt des Klienten zu seinen Eltern eingeschränkt werden und statt dessen der Kontakt der Betreuungsperson mit den Eltern intensiviert werden.
    • Prognose – Entwicklung: wie beim Punkt „Stereotype“
  4. Psychose
    • Endogene Psychosen (Schizophrenie, manisch-depressive Psychosen) und eine geistigen Behinderung schließen sich gegenseitig aus.
      Die in vielen medizinischen Berichten stehenden diesbezüglichen Diagnosen werden deshalb gestellt, damit man eine Begründung hat, hochwirksame Psychopharmaka, sog. „Neuroleptika“ (Haldol, Fluanxol, Neurocil, Leponex, usw.), zu verschreiben. Bei einer adäquaten Betreuung geistig behinderter Menschen ist die Einnahme dieser Medikamente nicht notwendig. Die einzige Verbindung zwischen endogener Psychose und geistiger Behinderung findet man bei Menschen, die vor einigen Jahrzehnten an einer Psychose erkrankt sind und damals noch nicht geistig behindert waren, die aber aufgrund jahrzehntelanger medizinischer Behandlung solche Gehirnschäden erlitten haben, daß sie jetzt geistig behindert sind.