Der gesellschaftliche Wandel in den Ländern
Mittel- und Osteuropas und seine Auswirkung auf
die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

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Einleitung

Das Ende des Sozialismus und die Hinwendung zum Aufbau eines auf Marktwirtschaft beruhenden wirtschaftlichen und politischen Systems in den Ländern Mittel- und Osteuropas beinhaltet einen grundlegenden Wertewandel in diesen Gesellschaften. Dieser Wertewandel wirkt sich nicht nur im Zusammenleben großer gesellschaftlicher Zusammenhänge aus, sondern auch in den einzelnen Beziehungen der Menschen untereinander. In den Familien und in jeder einzelnen Person. Dabei wird deutlich, daß der Veränderungsprozeß im Zusammenleben und in den Köpfen der Menschen nicht so einfach und reibungslos vorgeht, wie es sich viele – insbesondere Politiker – in der euphorischen Phase des Beginns dieses Prozesses erwartet hatten. Vielmehr ist der Veränderungsprozeß im Verhalten der Menschen untereinander und in den Personen häufig gekennzeichnet durch Verunsicherung, Depression, Hoffnungs- und Hilflosigkeit, mit einem Rückzug auf wohlbekannte Werte und Wertsysteme aus den Zeiten des Sozialismus oder mit der Übernahme radikaler Ideologien und Ideen. Ich möchte in diesem Vortrag einige Aspekte des Wandels von sozialistischen zu freiheitlich demokratischen Gesellschaften und ihre Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen analysieren. Ich möchte daran anknüpfend Vorschläge für eine professionelle Begleitung von Kindern und Jugendlichen bei diesem Prozeß entwickeln.

Wie entwickelt sich Persönlichkeit?

Um die Auswirkungen eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu analysieren, müssen wir uns zunächst Gedanken darüber machen, wie eine individuelle Persönlichkeit entsteht. Ich werde diesen Entstehungsprozeß für den europäischen Kulturraum darstellen, ohne den Anspruch, daß diese Sichtweise universelle Geltung auch für andere Kulturräume z.B. in Afrika oder Asien hat. Der ursprüngliche Raum, in dem ein Kind beginnt, sich zur Person zu entwickeln, ist die Familie. Dies müssen wir aber gleich wieder relativieren, da es schwer ist, sich darauf zu einigen, wer Familie ist. Sind es Vater Mutter und Kinder, gehören noch mehr Verwandte dazu, etwa die Großeltern, Geschwister der Eltern, Cousins und Cousinen usw.? So unterschiedlich die Vorstellungen von Familie auch sind, eines scheint mir in allen europäischen Ländern gleich zu sein: Die eindeutige Zuordnung des Kindes zu einem Vater und einer Mutter. Diese Zuordnung zu dem einen Vater und der einen Mutter ist die Basis für die dauerhafte Identifikation und Identifizierbarkeit des Kindes. Sie ist ebenfalls eine der wichtigsten Pfeiler der Staatsorganisation: Vater, Mutter, Geburtsdatum und Geburtsort werden in den staatlichen Unterlagen (Standesamtsunterlagen) registriert und sind die Grundlage der Plazierbarkeit und Auffindbarkeit der Person. Mit diesen Daten ist sie unveselbar. Die Zuordnung eines Kindes zu Vater und Mutter beschränkt sich aber bei weitem nicht nur auf Verwaltungserfordernisse. Sie gibt den Eltern gleichzeitig den Vorrang gegenüber allen anderen Personen in der Gesellschaft bei der Beeinflussung der weiteren Entwicklung des Kindes. Vater und Mutter dürfen (müssen) die Entwicklung ihres Kindes nach ihrer Auffassung beeinflussen – sie erziehen das Kind. Die Identitätsentwicklung des Kindes resultiert jedoch nicht nur aus dem mehr ziehen das Kind. Die Identitätsentwicklung des Kindes resultiert jedoch nicht nur aus dem mehr oder weniger bewußten Erziehungsverhalten der Eltern sondern generell aus der Übernahme der elterlichen Verhaltensweisen, Einstellungen bzw. allgemein gesagt der elterlichen Lebensweisen bzw. „Überlebensstrategien“. In ihrem Verhältnis zueinander haben weder die Eltern noch die Kinder eine Wahlfreiheit. Die das Kind identifizierende Verbindung zu den Eltern ist eine generelle „kulturelle Vereinbarung“. Demzufolge kann sich das Kind weder die Eltern noch deren Wertvorstellungen, Verhaltensweisen, sozialen Status usw. aussuchen. Es wird vielmehr von der gesamtgesellschaftlichen Umgebung damit in Verbindung gebracht und darauf fixiert. Dementsprechend resultiert die Identitätsentwicklung der Persönlichkeit nicht ausschließlich aus dem Handeln der beteiligten Familienmitglieder – Eltern und Kinder – sondern auch aus den Aktivitäten der mit der Familie in Kontakt stehenden Personen und gesellschaftlichen Institutionen. Trotz einer Veränderung in Familienstrukturen im Verlauf dieses Jahrhunderts hat sich der Identifikationsprozeß des Kindes über die Familie bzw. über Vater und Mutter nicht etwa abgeschwächt, sondern verstärkt. Er ist auch – bis auf wenige Ausnahmen- in sozialistischen Gesellschaften erhalten geblieben. Betrachten wir nun Prozeß der Identitätsentwicklung der kindlichen Persönlichkeit in der Familie etwas genauer. Im Grunde ist es schon falsch, wenn wir von „der Familie“ bzw. „den Eltern“ so sprechen, als liege darin eine einheitliche, geschlossenen Identifikationsbasis für die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit. Wenn wir es genau betrachten, repräsentieren Vater und Mutter nicht ein einheitliches in sich geschlossenes System von Werten und Verhaltensweisen sondern sie stellen zwei individuelle und unterscheidbare Persönlichkeiten dar, die jede für sich ein eigenes System von Werthaltungen, Einstellungen und Verhaltensweisen hat. In derselben Situation können Vater und Mutter als individuelle Person durchaus unterschiedlich denken, fühlen und handeln. Aus Sicht der sich entwickelnden kindlichen Persönlichkeit bedeutet das, sie hat zwei unterschiedliche Modelle, die sich in derselben Situation durchaus unterschiedlich bisweilen gegensätzlich darstellen können. Wesensmerkmal der Persönlichkeit ist die Spannung, die Dialektik, zwischen diesen Modellen. Im Klartext heißt das, die kindliche Persönlichkeit kann sich nicht etwa aus der mechanischen Übernahme eines Elternmodells entwickeln, sondern sie entwickelt sich aus der Wechselwirkung zweier gleichwertiger, richtiger aber unterschiedlicher Modelle in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt. Unsere Kultur geht davon aus, daß Mann und Frau und damit auch Vater und Mutter jeweils vollwertige eigenständige Persönlichkeiten sind, die in der Lage sind ihr „eigenes Leben“ (siehe Beck 1998) umfassend und eigenständig zu gestalten. Die Verbindung beider bedeutet nicht den Verzicht auf die jeweilige Eigenheit und Eigenständigkeit der Persönlichkeit. Dies gilt auch für das Erziehungsverhalten. Im Gegensatz zu häufig in den 70er und 80er Jahren vertretenen psychologischen und pädagogischen Auffassungen, daß für eine „gesunde“ Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit die vorherige Vereinbarung der Eltern über ein einheitliches Verhalten gegenüber dem Kind Voraussetzung sei – was ja ein Verzicht auf Individualität beinhalten würde – zwingt gerade die Unterschiedlichkeit und Individualität der Eltern das Kind dazu, etwas „Neues“ zu entwickeln, das es in dieser Form bisher nicht gab. Die Individualität von Vater und Mutter ist Voraussetzung für die Entwicklung von Individualität d.h. von Einzigartigkeit des Kindes. Die bisher dargestellten Überlegungen zur Persönlichkeitsentwicklung beinhalten einen weiteren für unseren Themenzusammenhang bedeutenden Aspekt. Die von mir so genannten „Überlebensstrategien“ oder besser „Überlebensprogramme“ der Eltern sind das Ergebnis einer erfolgreichen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt. Die im Leben und Überleben auf diese Weise gemachten Erfahrungen beinhalten damit nicht nur Verhaltensmöglichkeiten „an sich“ sondern in ihnen sind die jeder Person gestellten konkreten Umweltanforderungen enthalten. Das konkret Erlebte und damit die konkret erlebte Umwelt wird im Handeln verinnerlicht und zum Bestandteil des persönlichen „Überlebensprogramms“. Man kann auch sagen: die Gesellschaft, die Zeit, die Lebensbedingungen werden zum Bestandteil der Person (das gilt auch, wenn die Person das gesellschaftliche System nicht akzeptiert). Die Integration der Umwelt vollzieht sich auf Basis der aus den jeweiligen elterlichen Ursprungssystemen übernommenen Lebensprogramme. Diese wiederum gewinnen nur dann eine Bedeutung, wenn sie zu eben diesem Zweck, nämlich der Gestaltung des eigenen Überlebens, angewandt werden müssen. Überlebensprogramme oder Teile davon, die nicht aufgerufen und angewandt werden, sind für die Entwicklung der persönlichen Identität ohne Bedeutung. Einfach gesagt, entscheidend für die Entwicklung der Persönlichkeit ist nicht, daß sie von den Eltern „viel mitbekommt“, sondern daß sie in einer Welt lebt, in der sie das „viel mitbekommene“ anwenden kann und muss. Umgekehrt kann man sagen, eine Umwelt, mit vielen Anforderungen und Anregungen kann sich nur dann entwicklungsfördernd auf die Person auswirken, wenn diese die Möglichkeit hat, sich mit ihren „eigenen“ also im Prozeß der Familie übernommenen Möglichkeiten damit auseinanderzusetzen. Zum Schluß unserer allgemeinen Überlegungen zur Entwicklung von Persönlichkeit bzw. persönlicher Identität möchte ich noch auf den Begriff des „Selbstbewußtseins“ eingehen. Das Selbstbewußtsein der Individuen ist einer der Pfeiler der freiheitlich demokratischen Gesellschaft. Was ist Selbstbewußtsein? (Folie Begriffsdefinition Selbstbewußtsein) Im Selbstbewußtsein der Person spiegelt sich der objektive Vorgang der Persönlichkeitsentwicklung subjektiv wieder. Selbstbewußtsein ist das Wissen der Person darum, dass sie ihr eigene individuelle Ver-haltensstrategien zur Verfügung hat um heutige und zukünftige Anforderungen des Lebens in Gesellschaft und Umwelt zu bewältigen. Selbstbewußtsein beruht mithin auf der historischen Verankerung eigenen Handelns. Diese historische Verankerung entsteht nicht allein aus dem eigenen Erleben sondern aus einem Bezug zu den eigenen historischen „Wurzeln“. Ohne diese Wurzeln ist freies selbstbewußtes Handeln in einer freien demokratischen Gesellschaft und dem dazu gehörigen Wirtschaftssystem nicht möglich. Dabei sei noch einmal betont, daß das Wissen um die eigene Geschichtlichkeit also das Wissen um meine eigenen Wurzeln mich in meiner Handlungs- und Entscheidungsfreiheit nicht etwa determiniert, sondern daß es die Grundlage dafür ist, Neues zu tun, bzw. eine neue Qualität zu entwickeln. Kommen wir nun zu unserem eigentlichen Thema nämlich der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Wandels. Dazu wollen wir zunächst die Rolle und Bedeutung der individuellen Persönlichkeit im sozialistischen und freiheitlich demokratischen System vergleichen. Bei meinen Vergleichen beziehe ich mich in der Regel auf West- und Ostdeutschland, weil mir beide aus der unmittelbaren Anschauung bekannt sind. Da ich darüber hinaus einige weitere sozialistische Länder in der Vor- und Nachwendezeit kennengelernt habe, versuche ich auch diese Kenntnis soweit möglich, in die Überlegungen einzubeziehen. Die Bedeutung von Individualität unterschied sich in beiden Systemen grundlegend. Individualität, Freiheit des Einzelnen und seine persönliche Entfaltung gehören zu den erklärten Grundlagen freiheitlich demokratischer Gesellschaftsordnungen. Staat und Gesellschaft erwarten vom einzelnen Individuum – und zwar in den letzten Jahrzehnten in wachsendem Maße – daß es seine persönlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten und sein Handeln in das gesellschaftliche Zusammenleben einbringt, und daß es in der Lage ist, die Art und Weise dieser Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu organisieren und zu bestimmen. Die demokratische Gesellschaft und der demokratische Staat entstehen erst aus den individuellen Aktivitäten der Mitglieder. Gesellschaft entsteht aus Individualität. Anders im sozialistischen Staat. Er kennt und akzeptiert zwar auch das Individuum mit seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten, ordnet aber die individuellen Interessen und Aktivitäten einem Kollektivinteresse, dem Klasseninteresse, unter. Der sozialistische Staat sieht nicht die Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen als die Triebkraft für Entwicklung an, sondern unterschiedliche Gruppen – (Klassen-) Interessen, die aus Eigentumsverhältnissen bezüglich der Produktionsmittel (Fabriken, Land usw.) entstehen. Er ordnet generell die individuelle persönliche Entwicklung dem Ziel der staatlichen Kontrolle der Eigentumsver-
hältnisse unter. Wo in den demokratischen Gesellschaften Individualität und individuelles Denken gefördert wird, wurde in sozialistischen Gesellschaften Gruppendenken, Solidarität und Zurücknahme individueller Ansprüche gefördert. Individuelle Leistung wurde nur dann hoch gewertet und anerkannt, wenn sie sich auf diese gesellschaftlichen und Staatsziele bezog. Im Erreichen der Unterordnung von Individualität unter Kollektivität waren die sozialistischen Länder unterschiedlich erfolgreich. Aus eigener Anschauung kann ich sagen, daß
die DDR sehr und z.B. Polen weniger erfolgreich war. Dort, in Polen, hat sich ein hohes Maß an Individualität behaupten können. Die Gründe hierfür kann ich an dieser Stelle aus Zeitgründen nicht erläutern obwohl ich die Entwicklung der Individualität in verschiedenen Nationen für sehr betrachtenswert halte.
Für die Menschen in der DDR war die politische Wende gravierender und radikaler als man zunächst gedacht hatte. Auch im Westen insbesondere unter den westlichen Politikern hat man die persönlichen Probleme der Umstellung wesentlich unterschätzt. Wenn wir die Situation für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen in der ehemaligen DDR nach der politischen Wende mit Hilfe unserer vorher dargestellten Entwicklungstheorie analysieren, stellen wir eine Reihe von Komplikationen und Paradoxien fest, die insbesondere die Rolle der Eltern und damit eine der wichtigsten Entwicklungsgrundlagen der Kinder betreffen. Ich möchte ich einige gravierende Probleme aufzeigen: Ein großes Problem ist der Verlust der persönlichen materiellen und sozialen Absicherung durch Kollektiv und Staat und die daraus resultierende Notwendigkeit als Individuum, als
Einzelkämpfer sein Überleben zu organisieren und zu verantworten. Parallel dazu werden große Teile des bisherigen Wertesystems auf den Kopf gestellt. Was vorher gut war, ist heu
te schlecht, was vorher schlecht war, ist heute gut. Doch damit nicht genug: auch das neue Wertesystem kann nicht übernommen werden, weil es ja nicht selbst entwickelt wurde. Sehen wir uns dazu ein Beispiel an, das ich 1991 erlebt habe. Eine Familie mit 5 Personen, Vater (30), Mutter (29), Kinder 7, 5, und 3 Jahre. Der Vater ist von Beruf Lehrer, ehemaliges Mitglied der SED und deshalb aus dem Schuldienst entlassen, die Mutter Diplom – Meteorologin und arbeitslos, weil die Wetterstation geschlossen wurde, an der sie beschäftigt war. Der Vater arbeitet heute als Versicherungsvertreter, die Mutter ist Zuhause und versorgt Kinder und Haushalt. Der Vater war früher ein besonders guter und erfolgreicher Student und Lehrer, der sich über seine Arbeit hinaus in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und im Sport engagierte. Die Mutter hatte ein hohes Ansehen, weil sie sich gleichzeitig im Beruf bewähren konnte
und drei Kinder bekam.
In den behördlichen Überprüfungen, die über seine Weiterbeschäftigung als Lehrer entscheiden sollten, hatte der Vater ohne Erfolg mit seinem Engagement für Jugendliche argumentiert, seine SED – Mitgliedschaft war Grund genug zur Entlassung. Seine heutige Arbeit als Versicherungsvertreter sieht er als Notlösung. Sie macht ihn in seinen eigenen Augen und in den Augen seiner Nachbarn und Bekannten zum „Wendehals“, der sich den äußeren Bedingungen anpaßt, der aber keine „eigenen“ Werte mehr hat. Die Mutter ist einerseits glücklich, weil sie jetzt „soviel Zeit für die Kinder hat“, (sie liest auch neuerdings gerne Frauenmagazine, worüber es regelmäßig zum Ehestreit kommt). Andererseits pflichtet sie ihrem Mann bei, wenn er meint, daß sie früher „als Frau doch schon viel weiter“ gewesen sei, und sie meint auch, daß ihre heutige Situation in ihrer Partnerrolle und in ihrem eigenen Leben einen Rückschritt darstellt. Ich sprach mit den beiden darüber, was sie ihren Kindern erzählen würden, wenn diese nach ihrem Beruf fragten, und welche Einstellung sie ihren Kindern für ihr späteres Leben empfehlen würden. Beide waren ratlos. Ihre bis dahin erfolgreichen individuellen Überlebensprogramme werden von der veränderten Umwelt nicht mehr akzeptiert. Der Versuch, sie mit den Werten und Verhaltensanforderungen der neuen Ordnung zu verbinden, wird von der neuen Gesellschaft und von ihnen selbst als Verlust der eigenen Identität und als Übernahme einer Fremdidentität angesehen. Paradoxerweise wird gerade dieser Versuch, nämlich die positiven persönlichen Erfahrun-
gen aus der Zeit des Sozialismus in die neue Gesellschaft mitzunehmen, als Versuch einer Fortsetzung der alten Ordnung angesehen und bekämpft.
Aus Insidern werden Outsider. Die Outsider bleiben Outsider, das Dilemma ist komplett. An die Stelle der Übereinstimmung mit der sozialen Umgebung und mit der eigenen Lebensgeschichte tritt zwangsläufig das Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Wenn nicht durch ein Wunder eine Lösung für dieses Dilemma gefunden wird, müssen die Folgen für die Kinder fatal sein: Ihre Eltern sind die einzigen Personen, die ihnen die Grundlagen für die Entwicklung von Identität und Individualität vermitteln können. Sie repräsentieren aber eine allgemeine und persönliche Erfahrungswelt, deren Werte nicht mehr akzeptabel sind. Passen sie sich an die neue Welt an, verlieren sie ihre Besonderheit, ihre Individualität und Identität. Das Dilemma überträgt sich auf die kindliche Persönlichkeit. Die Eltern gehen als Rückhalt und Orientierungsgröße verloren. Die Dynamik aus der Dialektik persönlicher Verwurzelung und erfahrener Umwelt ist gestört bzw. unterbrochen. Die Folgen sind Passivität, Orientierungslosigkeit, Hilflosigkeit und die Neigung, sich durch einfache und allgemeine Ideen fremdsteuern zu lassen. Bei dem beschriebenen Beispiel handelt es sich keineswegs um einen Einzelfall. Mehr oder weniger sind fast alle Menschen in der ehemaligen DDR von diesem Problem betroffen. Man muß der deutschen Politik und der Administration den Vorwurf machen, daß sie in Fortführung des Ost- Westkonflikts aus oft kurzfristigen parteipolitischen und ökonomischen Interessen das Selbstwertgefühl der Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR systematisch zerstört hat in der irrigen Meinung, daß man die äußeren Bedingungen und die persönlichen Einstellungen einfach von einem auf einen anderen Staat übertrage könne. Wenn die Menschen und insbesondere die Kinder und Jugendlichen eine reelle Chance haben sollen, müssen die westdeutschen Politiker und die gesamte deutsche Öffentlichkeit im Umgang mit den in der ehemaligen DDR geschaffenen Werte grundlegend umdenken. Sie müssen unterscheiden lernen zwischen den aus individuellem persönlichen Engagement von jedem einzelnen geschaffenen Werten und ideologischer Bewertung. Bei der Auseinandersetzung mit der Ideologie darf der Wert der Einzelperson nicht untergehen. Die politischen Entwicklungen der letzten Zeit in Deutschland geben zu leichtem Optimismus Anlaß. Mit einer solchen Veränderung der Einstellung in Politik und Öffentlichkeit werden erst die Voraussetzung dafür geschaffen, daß man sich mit einer Reihe von Problemen auseinandersetzen kann, die der Sozialismus in den Familien und in den Köpfen der Menschen hinterlassen hat. Eins davon ist der Geschichtsverlust innerhalb von Familien – ich möchte es die „historische Uniformierung“ nennen. In meinen Gesprächen und Familienanalysen konnte ich feststellen, daß bei vielen Personen und bei vielen Familien die Fähigkeiten und die Kenntnisse verlorengegangen sind, die eine Differenzierung der Ursprungssysteme also z.B. der väterlichen und mütterlichen Ursprungsfamilie ermöglichen. Der Grund dafür liegt darin, dass die Familiengeschichte an die offizielle Geschichtsschreibung angepaßt werden mußte. Ein typisches Beispiel dafür sind die Wohnortswechsel der letzten zwei Generationen. Diese wurden zum einen hervorgerufen durch den Krieg und die Kriegsfolgen also Flucht, Vertreibung , Umsiedlung usw., später aber auch durch planwirtschaftliche Entscheidungen, die einen erzwungenen Ortswechsel von Familien hervorriefen. In den überlieferten Familiengeschichten werden zwar diese Ortswechsel noch erwähnt, der jeweilige Lebensraum der
Familien kann aber häufig weder geographisch zugeordnet noch kulturell oder sozialstrukturell beschrieben werden. Wenn überhaupt, findet nur eine Assoziierung mit den offiziellen staatlichen Sprachregelungen statt.
Wenn z.B. eine in der DDR lebende Familie bzw. ihre Vorgeneration aus dem ehemals deutschen und heute polnischen Gebiet stammte, erhielt ich auf die Frage nach der Herkunft nahezu regelmäßig die Antwort, daß die Eltern oder Großeltern irgendwo in Polen geboren seien und wenn ich weiter nach dem Geburtsort fragte, konnte dieser nicht benannt werden. Dieses Problem trat und tritt allerdings nicht nur bei einer geographischen Zuordnung der Familie auf, sondern auch bei der Zuordnung eines sozialen Status insbesondere bei der Zuordnung eines Status, der durch die Berufstätigkeit und das Einkommen in den beiden Vorgenerationen bestimmt wurde. Der Sozialismus hat die gewachsene gesellschaftliche Binnenstrukturierung so radikal beseitigt, dass Personen, die sie nicht bewußt selbst erlebt hatten, keine Möglichkeiten entwickeln konnten, sich davon eine Vorstellung zu machen. Es war häufig regelrecht tabuisiert, die Lebensweise der Großelterngeneration zu überliefern, besonders dann, wenn diese den sogenannten besitzenden Klassen entstammten. Auf diese Weise konnte an die Stelle einer in der Familie begründeten Individualisierung eine aus der staatlichen Ideologie resultierende Uniformierung der Person treten. Der Prozeß der „historischen Uniformierung“ ist allerdings nicht endgültig erfolgreich im Sinne des Sozialismus gelaufen, wie man an der politischen Wende sieht. Trotzdem hat er Spuren im Selbstbewußtsein der Menschen hinterlassen, die die Chancen einer aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben z.B. im Beruf, erheblich mindern, und die bis hin zu einer totalen Entwurzelung insbesondere von jungen Menschen führen können. Welche Anforderungen können wir aus dem Gesagten für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ableiten? In vielen Einzelfällen werden wir die Familie in ihrer traditionellen Form nicht erhalten und auch nicht wieder aufbauen können. Wobei wir aber mithelfen können ist, dass Vater und Mutter als wertvolle Personen angesehen und erfahren werden können. Es muß gelingen, die Lücke zu schließen, die durch das Wegfallen der staatlichen ideologischen Steuerung für die persönliche Orientierung entstanden ist. Eine wichtige Rolle müssen dabei Kindergärten und Schulen spielen, indem sie einerseits die Eltern in ihrer wieder erstarkten Rolle einbeziehen und andererseits differenziertere historische Grundlagen vermitteln. In diesen Vermittlungsprozeß sollten die Eltern einbezogen werden. Einzelmaßnahmen in der Jugendhilfe müssen darauf ausgerichtet sein, die Identifizierbarkeit von Vater und Mutter für das Kind oder den Jugendlichen zu erhalten und zu stärken. Der Prozeß der Umstellung und Neuorientierung braucht Zeit und Geduld. Damit er erfolgreich verlaufen kann ist eine Anstrengung der ganzen Gesellschaft erforderlich. Das bedeutet aber, daß man das Ziel nicht aus den Augen verlieren darf, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, selbstbewußte Individuen zu werden, die die zukünftige Gesellschaft aufbauen. Die Stärkung und Unterstützung aller Eltern ist eine Zukunftsinvestition, die sich in der nächsten und den Folgegenerationen dauerhaft amortisieren wird.

Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal zusammenfassen:

• Die Entwicklung von Individualität braucht die historische Verwurzelung über Vater und Mutter

Im Sozialismus werden die Individualisierungsgrundlagen durch die historische Uniformierung beschränkt.

Der Wandel des Wertesystems kann bei Einzelpersonen oder bei Familien zu Identitätsverlust führen.


Aufgrund der genannten Ursachen kann es zur historischen Entwurzelung von Kindern und Jugendlichen kommen.


Antriebslosigkeit, Orientierungslosigkeit, Aggressivität und ideologische Radikalisierung bei Jugendlichen sind Folgen historischer Entwurzelung.


Schule und Institutionen der Jugendhilfe müssen der Identifizierung und Aufwertung der Eltern Vorschub leisten.